Spannende Grabsuche in Nabrezina

Spannende Grabsuche in Nabrezina

(Nachtrag zu Kapitel 48, S. 355 f.)

Von Karl Waltersdorfer, dem 1896 geborenen jüngeren Bruder von Mitzi (Adoptivmutter meines Vaters), gibt es neben dem Hinweis aus dem Taufbuch auf seine Grabstätte auch ein Foto, das das frische Grab (er starb am 19. Juli 1916 und wurde am 20. Juli begraben) in Nabrežina zeigt: Es ist ein Doppelgrab in einem lichten Wald auf einem mit einer kleinen Steinmauer abgegrenzten Friedhof. Zwei Kriegskameraden flankieren das frische Grab. Die Tafeln auf den schlichten Holzkreuzen geben die Namen der eben hier Bestatteten an:

  • (371) Pion. Kobyluk Nikol., Pion. Komp. 5/10, Geb. 1892 (?) Durov Galiz. Gest. 20/7.1916
  • (370) Inf. Waltersdorfer Karl, Ldst.(?) I.R. 27/8, Geb. 1896 Bayr. Kölldorf Strmk. Gest. 19/7.1916

Anstelle eines Kranzes hat man frische Zweige einer Eibe auf das Grab gesteckt.

Mit Hilfe des Internet gelingt es, die Lage des Militärfriedhofs (cimitero Austro-Ungarico) in Nabrežina (heute Aurisina) zu eruieren. Aurisina ist eine Stadt im Karstteil der Gemeinde Duino-Aurisina in der Nähe von Triest, in einer Region slowenischer Minderheit. Es liegt 15 Kilometer nordwestlich von Triest und hatte bei der Volkszählung von 2003 insgesamt 2.406 Einwohner, davon 60% Slowenen.[1]

Schon seit einiger Zeit beschäftigt mich der Gedanke, auf einer meiner ausgedehnten jährlichen Fototouren auch einmal diesen Friedhof aufzusuchen. Vielleicht lässt sich das Grab von Karl, meinem „Großonkel“, der mehr als 60 Jahre vor mir in meinem Heimathaus aufgewachsen ist, eruieren.

Jetzt, am 16. Mai 2022, ist es so weit. Ich habe mit meiner Frau Lisi das Wochenende in der Umgebung von Piran verbracht und nun, auf dem Heimweg, wollen wir dieses Grab suchen. Es gibt keine Straße direkt hin zum Friedhof, er liegt irgendwo mitten im Gelände abseits des Ortes. Wir suchen in Google Maps den nächstgelegenen Straßenpunkt und steuern ihn mithilfe des Navigationsgerätes an. Es wird eine abenteuerliche Fahrt: Zunächst geht es durch die winkeligen und schmalen Gassen einer kleinen Ortschaft, in denen wir fürchten müssen, mit unserem Auto steckenzubleiben. Gott sei Dank kommt uns kein Fahrzeug entgegen, es gäbe keine Ausweichmöglichkeit und kein Zurück. Die Straße mündet in einen holprigen Schotterweg, der uns unter der Schnellstraße hindurchführt – und schließlich: „Sie haben Ihr Ziel erreicht“. Wir stehen am Rand eines Waldes, neben uns, hinter Gebüsch versteckt, donnern die Autos auf der Schnellstraße vorbei. Hier irgendwo im Wald soll also der Friedhof sein? Wir suchen die Umgebung ab und finden schließlich einen schmalen Wanderpfad, der in den Wald hineinführt. Ihm folgen wir einige hundert Meter, bis er sich gabelt. Laut Handy-Navi liegt der Friedhof jetzt hinter uns!?? Wir folgen der Abzweigung nach rechts, und bald wird der Weg breiter. Und nach einem kurzen Stück geht es tatsächlich ein paar Schritte hinunter in die Senke, und da liegt er auch schon hinter einer Steinmauer mit einem Gittertor: ein Friedhof mit Hunderten gleichförmiger Betonkreuze, in Reihen geordnet und von hohem Gras fast überwachsen. Eine Tafel beim Eingang erzählt uns die Geschichte dieses Friedhofes:

Österreichisch-ungarischer Soldatenfriedhof in Aurisina
1915 wurde in Aurisina ein Feldlazarett in Betrieb genommen. Die ihren Verletzungen erlegenen Soldaten wurden zunächst direkt auf dem Zivilfriedhof in Aurisina bestattet. 1916 wurde dann mit dem Bau des heutigen Friedhofs in der Nähe des Bahnhofs begonnen.
Der Friedhof wurde mehrmals umgestaltet, da die Leichname der Gefallenen ursprünglich auf anderen Friedhöfen begraben waren und in verschiedenen Phasen hierher verlegt wurden. Die Friedhofsmauer wurde in den 20er Jahren vom Officio centrale per la Cura e le Onoranze dei cadutti in guerra (Zentralbüro für die Pflege und die Ehrung der Leichname der Kriegsgefallenen) errichtet. In letzter Zeit ließ das Österreichische Schwarze Kreuz, der Verein für das Gedächtnis der Kriegsgefallenen, neue Zementkreuze aufstellen, die dem Friedhof seine heutige Gestalt geben.
Auf dem Friedhof haben 1.934 Gefallene ihre letzte Ruhe gefunden.

Die meisten Kreuze sind mit zwei Namen versehen, auf manchen steht nur einer, auf manchen sind es drei. Es müssen also ungefähr 1000 Kreuze sein. Lisi und ich teilen uns die Suche auf: Ich beginne bei den ersten Reihen, Lisi in der Mitte des Friedhofs. Reihe für Reihe marschieren wir ab und lesen die Namen. Nach einiger Zeit klatscht und winkt Lisi: Sie hat es gefunden! Beinahe versteckt unter dem Stamm eines großen Baumes (es dürfte eine Eibe sein) steht das Kreuz mit der Nummer C 9/3 und den beiden Namen Nikolaus Kobyluk und Karl Waltersdorfer. Es ist ein berührender Augenblick: Mehr als 100 Jahre nach seinem Tod steht wohl als erster aus der Familie ein Nachfahre, der im gleichen Haus geboren wurde und aufgewachsen ist, vor dem Grab seines Vorfahren, der im Alter von knapp 20 Jahren in dieser Gegend im ersten grausamen Krieg des letzten Jahrhunderts sein Leben lassen musste. Lisi pflückt einen Strauß Wiesenblumen und steckt ihn zum Kreuz, wir machen viele Fotos, beten ein Vaterunser und verlassen dann diesen Ort schweigend wieder.

Wir gehen den breiteren Forstweg in die andere Richtung weiter und kommen bald zu unserem Auto. Hier wäre auch ein Wegweiser zum Friedhof. Wir sind also von der falschen Seite gekommen. Der holprige Schotterweg führt in diese Richtung auch nicht durch die Ortschaft mit den engen Gassen, sondern mündet irgendwann auf die Hauptstraße des Ortes Aurisina Stazione. Auch hier gibt es einen Wegweiser zum Friedhof. Wir hätten also nur einige hundert Meter weiter auf der Hauptstraße bleiben und nicht den kürzesten Weg suchen müssen.

Unter dem mittleren der drei Bäume liegt das Grab von Karl Waltersdorfer

Es ist eigenartig: Da stehen auf diesem ganzen großen Friedhofsgelände genau drei Bäume, und unter einem von ihnen liegt Karl Waltersdorfer. Dieser Gedanke beschäftigt mich zu Hause weiter. Die Eintragung aus dem Taufbuch ist eindeutig: Er ist gestorben am 19. Juli 1916 in Nabrežina und wurde am 20. Juli dortselbst im Militärfriedhof beerdigt. Es wird also wohl der originale Begräbnisplatz sein. Es hätte keinen Grund gegeben, ihn auf dem eben erst angelegten Friedhof später umzulegen, wie man es mit den vielen anderen gemacht hat, die nach und nach von anderen Friedhöfen der Umgebung hierher verlegt wurden. Ich sehe mir das alte Bild von 1916 noch einmal an und kann mir plötzlich gut vorstellen, dass einer der Zweige, die man damals auf sein Grab gesteckt hat, Wurzeln geschlagen hat und über seinem Grab zu diesem Baum gewachsen ist.

Und noch ein Gedanke drängt sich auf: Karl ist wohl nicht in diesem Ort im Kampf gefallen, sondern im Lazarett gestorben. Es ist wohl kein Zufall, dass man das Feldlazarett in der Nähe des Bahnhofs gebaut hat. So konnte man einerseits die vielen Verwundeten leichter in größeren Mengen hierher transportieren, oder auch, sobald sie transportfähig waren, zurück in die Heimat schicken. Für die, die ihre Verwundung nicht überlebt haben, hat man gleich neben dem Lazarett diesen Friedhof angelegt. Karl muss also wohl als Verwundeter hier im Lazarett gelandet und dann seinen Verletzungen erlegen sein.

Einige Tage später stoße ich dann im Internet auf die Geschichte des 27. Infanterieregiments „König der Belgier“, dem Karl angehört hat.[2] Sehr detailliert sind hier auch die Geschichte des Regiments und die verschiedenen Einsatzorte im Ersten Weltkrieg angegeben. Ich weiß nicht, zu welchem Zeitpunkt Karl zum Krieg eingezogen wurde, aber es könnte wohl schon am Beginn im Jahr 1914 gewesen sein. Karl war zu diesem Zeitpunkt ja immerhin schon 18 Jahre alt.

Den ersten Einsatz hatte das Regiment, das vorwiegend aus Steirern bestand, am 26. August 1914 an der Ostfront in der Schlacht bei Złoczów in Gallizien (heute Ukraine, in der Gegend von Lemberg) und musste sich im November/Dezember hinter die Karpaten zurückziehen. Im August 1915 wurde das Regiment an die Isonzo-Front nördlich von Triest verlegt und kämpfte in der 3. und 4. Isonzoschlacht (18. Oktober bis 14. Dezember 1915). Zwischen Dezember 1915 und Februar 1916 folgte ein Stellungskrieg am Monte San Michele und danach die Verlegung auf die Hochfläche der Sieben Gemeinden (Sette Comuni) mit dem Hauptort Asiago. Somit ist davon auszugehen, dass Karl an der vom Oberbefehlshaber Conrad von Hötzendorf geleiteten Südtiroloffensive 1916 (sogenannte „Strafexpedition“) beteiligt war.

Die Offensive mit der Hauptstoßrichtung über die Sieben Gemeinden begann am 15. Mai 1916. Zweck war der Versuch, in Richtung Padua – Venedig vorzustoßen, die italienischen Kräfte östlich des Piave einzukesseln und so die schwer bedrängte Isonzofront zu neutralisieren oder zumindest zu entlasten. Letzteres gelang, wenn auch nur vorübergehend …
Der außergewöhnlich schneereiche Winter verhinderte die Einhaltung der ursprünglichen Angriffstermine, die immer wieder verschoben werden mussten. Versuche, über die Schneedecke hinwegzukommen, erwiesen sich infolge des einsetzenden Föhnwetters bald als aussichtslos. Die mit voller Ausrüstung angetretenen Männer sanken bis zu den Hüften ein und kamen nur im Schneckentempo vorwärts, ein Angriff gegen ausgebaute Stellungen war völlig ausgeschlossen …
Bedingt durch die ungünstigen Witterungseinflüsse waren die Angriffstruppen im großen Rahmen zur Untätigkeit verdammt. Man nutzte diese Zeit für eine umfangreiche Feindaufklärung. Fliegeraufnahmen, Überläufer und die Einbringung von Gefangenen durch Schipatrouillen erlaubten eine genaue Einschätzung der gegnerischen Stellungen …

Am 13. Mai 1916 erfolgten die Angriffsbefehle für den 15. Mai 1916… Nach anfänglichen Geländegewinnen versteifte sich jedoch der Widerstand, schnell zusammengezogene Reserven machten ein Vorankommen immer schwieriger. Als dann italienische Eingreifverbände von der Isonzofront abgezogen und in die bedrängten Abschnitte verlegt wurden… und die viel zu gering veranschlagte Bevorratung an Munition, welche die österreichische Artillerie zu einer Reduzierung des Beschusses der italienischen Front zwang, sowie allgemeine Versorgungsschwierigkeiten eintraten, kam die Offensive schließlich am 15. Juni zum Stillstand …
Trotz aller weiteren Versuche war ein Vorrücken über die bereits erreichten Stellungen nicht mehr möglich, da die Versorgung mit Material und Verpflegung eine Schwierigkeit erreicht hatte, die fast nicht mehr zu bewältigen war. Die schlechten Wetterbedingungen (Nässe und Kälte) taten ein Übriges.[3]

Die konkreten Kämpfe, in die das 27. Infanterieregiment dabei verwickelt war, sind in Wikipedia detailliert aufgelistet:

  • Schlacht bei Folgaria und Lavarone (15. bis 26. Mai 1916)
  • Schlacht bei Asiago und Arsiero (27. Mai bis 16. Juni 1916)
  • Einnahme von Asiago (27. bis 29. Mai 1916)
  • Kämpfe auf der Hochfläche der Sieben Gemeinden (29. Mai bis 8. Juni 1916)
  • Die Eroberung des Monte Cimone (30. Mai 1916)
  • Die Kämpfe im Melettagebiete (31. Mai bis 8. Juni 1916)
  • Gefecht bei Fontana Tre Pali, erster Angriff auf den Monte Meletta (5. Juni 1916)
  • Die Eroberung des Monte Meletta (7. Juni 1916)
  • Der Fall des Monte Castelgomberto (8. Juni 1916)
  • Ausklang der Offensive in Südtirol (9. bis 16. Juni 1916)
  • Abwehrkämpfe im Melettagebiete und am Grenzkamm (9. bis 24. Juni 1916)
  • Beziehen der Dauerstellung auf den Sieben Gemeinden (24. bis 30. Juni 1916)
  • Abwehrschlacht auf der Hochfläche von Asiago (1. bis 24. Juli 1916)[4]

Alle diese Orte und Gegenden liegen nördlich der Linie Vicenza – Treviso und sind damit ein gutes Stück von Nabrežina entfernt. Ob Karl tatsächlich bei einer dieser Kampfhandlungen verletzt und ins weit entfernte Lazarett nach Nabrežina gebracht wurde, oder ob er bereits bei den wesentlich näher gelegenen Stellungskämpfen auf dem Monte San Michele (ca. 25 km nordwestlich von Nabrežina) zwischen 22. Dezember 1915 bis 17. Februar 1916 verwundet ins Lazarett gebracht wurde, kann ich nicht beurteilen.
Dass er auf jeden Fall als Verwundeter geführt wurde, lässt sich aus den veröffentlichten Verlustlisten belegen. In der am 12. September 1916 veröffentlichten Verlustliste wird Karl Waltersdorfer noch als verwundet aufgelistet.[5] Zu diesem Zeitpunkt liegt er aber bereits auf dem Militärfriedhof von Nabrežina unter dem austreibenden Zweig einer Eibe, die auf seinem Grab Wurzeln geschlagen hat.

[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Aurisina

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/K.u.k._Infanterieregiment_%E2%80%9EAlbert_I._K%C3%B6nig_der_Belgier%E2%80%9C_Nr._27

[3] https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96sterreich-Ungarns_S%C3%BCdtiroloffensive_1916

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/K.u.k._Infanterieregiment_%E2%80%9EAlbert_I._K%C3%B6nig_der_Belgier%E2%80%9C_Nr._27

[5] https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=vll&datum=19160912&query=%22Waltersdorfer%22&ref=anno-search&seite=56


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